In einem Wald stand einmal ein junger Tannenbaum, der schöner war als all seine Brüder, die um ihn herum standen. Das wusste der Tannenbaum und ließ seine Brüder wissen, was er von ihnen dachte.
„Du bist ganz verwachsen“, sagte er zu einem, der sich leicht schief nach oben reckte.
„Du bist ganz braun“, sagte er zu einem zweiten, dessen Nadeln trocken geworden waren.
„Und du bist ganz kahl“, sagte er einem dritten, dessen Äste nicht so dicht mit Nadeln besetzt waren wie seine eigenen.
Die anderen Bäume erduldeten den Spott des schönen Tannenbaums. Denn insgeheim schämten sie sich dafür, das sie nicht so gerade, so grün und so dicht bewachsen waren wie der schöne Tannenbaum.
Da kam ein Rabe, der hatte alles gehört. Er setzte sich auf einen Ast und sprach zum Tannenbaum: „Schön bist du. Aber ein Herz hast du keins. Jeder deiner Brüder hat mehr Güte im kleinsten Ast als du in deiner ganzen Krone.“
Der Tannenbaum schüttelte sich, dass der Rabe davonflog. Ehe sich der Rabe aber in die Lüfte schwang, sagte er: „Bleibst du so stolz, wird es ein schlimmes Ende mit dir nehmen.“
„Dummer Rabe“, sagte der Tannenbaum und blieb wie er war.
Es wurde kalt und der erste Schnee fiel. Ein Mann und ein Mädchen kamen in den Wald. Als der Tannenbaum das Mädchen sah, wurde er ganz aufgeregt. Das Mädchen trug prächtige Kleider, goldene Schuhe und einen dicken Mantel mit wunderbaren Stickereien. Das Mädchen war so schön wie er! Der Tannenbaum schüttelte den Schnee von sich, damit ihn das Mädchen in all seiner grünen Pracht sehen konnte.
„Tu das nicht“, warnte der Baum mit den braunen Nadeln, der der älteste war. „Es ist besser, wenn die Menschen dich nicht sehen. Es ist bald Weihnacht.“
„Sie sollen mich sehen!“, sagte der Tannenbaum. „Sie sollen sehen, wie schön ich bin!“
Der kahle Baum versuchte den Tannenbaum mit seinen nadellosen Ästen zu verdecken. Der schiefe Baum neigte sich noch mehr zur Seite, um den Menschen den Blick auf den schönen Tannenbaum zu versperren. Doch ihre Bemühungen waren vergeblich. Das reiche Mädchen hatte den Tannenbaum bereits entdeckt. Sie zeigte mit dem Finger auf ihn und rief: „Der ist schön!“
Als der Tannenbaum das hörte, reckte er sich stolz in die Höhe. Doch seine Brüder seufzten traurig.
Der Mann nickte. Dann holte er eine Axt hervor und fällte den schönen Tannenbaum. Stumm vor Schreck fiel der Tannenbaum in den Schnee. Als sie ihn aus dem Wald schleiften, war das Wehklagen seiner Brüder das Letzte, das er hörte.
Sie stellten ihn in die gute Stube, dicht neben den Ofen, in dem ein Feuer flackerte. Der Baum fürchtete sich vor den Flammen und hatte in der Nacht Alpträume, dass ihn ein Funke in Brand setze. Das reiche Mädchen aber lächelte.
„Schön sieht er aus!“, sagte sie am Morgen und begann den Tannenbaum zu schmücken. Mit goldenen Kugeln, die so schwer waren, dass sich seine Äste nach unten bogen. Mit glänzendem Lametta, mit dem sie fast alle seine schönen grünen Nadeln bedeckte. Am Ende setzte sie einen silbernen Engel mit güldenen Locken und Flügeln aus weißen Federn auf seine prächtige Spitze.
Als sie fertig war, sagte das reiche Mädchen mit strahlenden Augen: „Das ist der schönste Baum von allen!“ Doch der schöne Tannenbaum hatte sich noch nie so hässlich gefühlt.
Tagein, tagaus stand der Tannenbaum neben dem heißen Ofen, den er so fürchtete. Tagein, tagaus trug er seine schwere Last. Und jeden Tag kam das reiche Mädchen und seine Familie. Sie bewunderten den Tannenbaum und sangen ihm Lieder. Der Tannenbaum aber wurde immer trauriger. Denn das reiche Mädchen sah nur seinen Schmuck und nicht seine schönen Äste. Ihre Worte verletzten ihn mehr als die Axt, die ihn gefällt hatte.
In der Nacht aber, wenn das Feuer erloschen und die Menschen zu Bett waren, fühlte sich der Tannenbaum wohler. Sehnsüchtig schaute er dann aus dem Fenster, das mit Eisblumen bedeckt war. Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken zur Erde und das Mondlicht verzauberte die Welt mit seinem silbernen Glanz. Er vermisste die Kälte des Waldes und das warme Gefühl, das er im Kreise seiner Brüder gehabt hatte. „Könnte ich sie noch ein letztes Mal sehen!“, sagte der Tannenbaum. Doch das war unmöglich. Und so stand der Tannenbaum in der guten Stube und wartete auf Weihnachten. Mit jedem Tag, der verging, wurde ihm die Last des festlichen Schmuckes schwerer – und als ihm am Heiligen Abend sein schönster Ast abbrach, wusste er, dass er sie nicht mehr lange würde tragen können.
Als das reiche Mädchen und seine Familie unter dem Tannenbaum Bescherung feierten, ließ er traurig seine Äste tiefer hängen. Niemand kümmerte es, dass seine Zweige kahler und kahler geworden waren. Sie sahen nur auf seinen Schmuck und erfreuten sich daran. Der Tannenbaum konnte die Nacht kaum erwarten. Er wollte allein sein, aus dem Fenster starren und sich zurück in den Wald träumen.
Doch in dieser Nacht war etwas anders als zuvor. Draußen war es so kalt geworden, dass die Eisblumen das Fenster überwuchert hatten und dem Tannenbaum den Blick auf die Welt versperrten. Der Tannenbaum fühlte, wie ihm ganz schwer zumut wurde, da wischte eine kleine Hand die Eisblumen fort. Draußen im Schnee stand ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopf und einem zerrissenen Kleidchen, das so dünn war, dass man die Fäden sehen konnte, aus denen es gewebt war. Das Mädchen schaute so sehnsuchtsvoll durchs Fenster hinein, wie der Tannenbaum zuvor hinaus geschaut hatte. Das arme Mädchen entzündete ein Schwefelhölzchen, um sich daran zu wärmen – und als es sah, wie traurig der Tannenbaum aussah, entzündete es ein zweites. Damit befreite es die ganze Scheibe vom Eis, sodass der Tannenbaum besser hinaus sehen konnte.
In der nächsten Nacht kam das arme Mädchen wieder und befreite mit einem Schwefelhölzchen die Scheibe vom Eis. So ging es jede Nacht bis zur siebten. In der siebten Nacht aber, dem Silvesterabend, da entzündete sie kein Schwefelhölzchen mehr. Stattdessen rieb sie die Scheibe mit bloßen Händen blank und blickte in die Stube, die Finger und Lippen blau von der Kälte.
Dem Tannenbaum wurde schwer ums Herz, denn er hatte das arme Mädchen lieb gewonnen. Er wusste, dass es in der nächsten Nacht nicht mehr kommen würde. Er wollte ihr eine letzte Freude bereiten. Der Tannenbaum brach seinen zweitschönsten Ast ab und warf ihn in den Ofen. Dort war noch Glut in der Asche. Der Tannenbaum hob die schwere Last seines Schmucks an, reckte und streckte sich – und als der Ast Feuer fing und die Stube hell erleuchtete, sah ihn das Mädchen in seiner ganzen weihnachtlichen Pracht. Das arme Mädchen lächelte. Ihr Lächeln war das schönste, das der Tannenbaum jemals gesehen hatte.
Da kam der Rabe ans Fenster geflogen und als er auf dem Fenstersims landete, verwandelte er sich in einen knochigen Mann, der einen weiten schwarzen Mantel trug. Der Mann hob das Mädchen, das zu Boden gesunken war, auf, hüllte es zärtlich in seinen Mantel und verwandelte sich zurück in einen Raben. Ehe er sich in die Lüfte schwang, sagte er zum Tannenbaum:
„Hast du dein Herz doch noch gefunden.“
Und es musste wahr sein, denn sein Herz hatte dem Tannenbaum noch nie so wehgetan, wie in dem Moment als er den Raben davonfliegen sah.
Als der Tannenbaum in dieser Nacht vom Wald träumte, erwachte er nicht mehr. Er blieb im Wald, stand schmucklos neben seinen Brüdern, dem Schiefen, dem Braunen und dem Kahlen – und der Tannenbaum war glücklich einer von ihnen zu sein.
Anmerkung
Bei diesem Märchen handelt es sich um einen ersten Textentwurf, der das Ergebnis meiner Teilnahme an einem Schreib-Workshop ist.