Im Foyer des einzigen Kinos der Stadt hatte sich versammelt, was in Lügeln Rang und Namen hatte. Als ich ankam, war der Champagner-Empfang bereits in vollem Gange. Ich ging zur Moët-Bar, wie ein wuchtiges Werbeschild verhieß. Um der Theke, an der sonst weniger edle Tropfen kredenzt wurden, einen würdigeren Anstrich zu verleihen, hatte man königsblauen Samtstoff darüber drapiert.
Die beabsichtigte Wirkung wurde allerdings eindrucksvoll verfehlt, denn zwischen den Stofffalten lugte überall die mit Fingerabdrücken verschmierte Glasoberfläche der Theke hervor und gab den Blick auf vollgestopfte Popcorn-Tüten frei. Mir wurde von einer Blondierten mit Sonnenstudio-Bräune, aufgeklebten Wimpern und aufgesetztem Lächeln ein Glas gereicht, das bis knapp unter den Rand mit Champagner gefüllt war.
„Greifen Sie zu“, bedrängte Sie mich und hielt mir einen wackelnden Gurkensandwich-Turm unter die Nase.
„Nach original englischem Rezept“, flötete sie.
Das Champagner-Glas in der Rechten fühlte ich mich genötigt, nicht ohne ein Gurkensandwich in der Linken den Rückzug anzutreten – schon aus Angst, der Turm möge einstürzen und man würde mich dafür verantwortlich machen.
Zögerlich biss ich eine kleine Ecke des unappetitlich aussehenden Sandwiches ab. Es schmeckte schal und war erstaunlich trocken, wenn man bedachte, dass es den Namen eines Kürbisgewächses trug, das zu fünfundneunzig Prozent aus Wasser bestand. Der Speisebrei kleisterte sich widerborstig an meinen Gaumen. In meiner Not nahm ich unvorsichtig einen ordentlichen Schluck Champagner, um meinen Mundraum von dem aufgedrängten Gurkensandwich zu erlösen. Die pappige Süße überrumpelte mich. Kurz war ich versucht auszuspucken, besann mich aber aufgrund des Anlasses eines Besseren und schluckte.
Verwirrt besah ich die Champagner-Flaschen näher. Irgendwer hatte sorgfältig alle Etiketten abgekratzt und die Flaschenhälse mit übergroßen goldenen Schmuckschleifen versehen. Meine Zunge ließ sich von solchen Täuschungsversuchen allerdings nicht blenden. Wie jedem Kenner war mir gleich klar, dass es sich bei dem vermeintlichen „Champagner“ bestenfalls um einen Schaumwein aus dem oberen Regal bei Aldi handelte. Die Begeisterung der übrigen geladenen Gäste, die klangvoll anstießen, mit spitzen Mündern und abgespreizten kleinen Fingern an den Gläsern nippten und dazu Gurkensandwiches knabberten, ließ jedoch kaum Zweifel, dass es im Raum keine Kenner gab. Unauffällig wurde ich Glas und Sandwich wieder los und zückte meinen Notizblock. Schließlich war ich nicht zum Vergnügen gekommen, auch wenn der Champagner-Empfang das Einzige gewesen war, auf das ich mich gefreut hatte. Ich war nämlich unfreiwillig hier. Meine Zeitung hatte mich geschickt, um unseren Kultur-Fritz – er hieß wirklich Fritz – zu vertreten. Als eingefleischter Sportreporter konnte ich mich für die Events der High Society nur wenig begeistern. Dass man mich heute nötigte, über die „High Society“ Lügelns zu berichten, die es anderswo kaum geschafft hätte, als Society bezeichnet zu werden, machte es mir besonders schwer, selbst mein übliches Minimum an Begeisterung vorzutäuschen. Ich zwang meine Mundwinkel nach oben und fügte mich in mein Schicksal. Unauffällig leckte ich mit der Zungenspitze über meinen Bleistift und begann mit der Arbeit.
Mein Blick wanderte durchs Foyer, während meine Hand übers Papier raste und alles notierte, was mir auch nur entfernt bemerkenswert erschien. Der rote Teppich, der zu dem Kinosaal führte, in dem die eigentliche Veranstaltung stattfinden sollte, war abgetreten und viel zu kurz. Er endete in der Mitte des Raumes. Der Abendgarderobe der Anwesenden merkte man zwar das Bemühen an möglichst mondän zu wirken. Sie verriet zugleich aber auch, dass die Gäste sich erstmals in der Verlegenheit befanden, irgendwo elegant gekleidet erscheinen zu müssen. Natürlich hatte in Lügeln niemand die Mittel, um sich eigens für den heutigen Tag eine Abendgarderobe anzuschaffen. Daher hatte man das im Kleiderschrank Vorhandene mit viel Fantasie und wenig Stilgefühl umfunktioniert, wodurch einige Kreationen ins unfreiwillig Komische abgerutscht waren: Eine Dame hatte offensichtlich ihr Hochzeitskleid eingefärbt. An einigen Stellen schien die ursprüngliche Farbe des Stoffes durch, außerdem war das Kleid deutlich zu eng, denn die Trägerin hatte seit ihrer Hochzeit einige Pfunde zugelegt. Eine andere Dame hatte sich eine zerrupfte Federboa mehrmals um den Hals geschlungen, in dem vergeblichen Versuch, die fehlenden Federn zu kaschieren. Alle trugen selbstverständlich Hut, wie es sich bei einer Hochzeit des englischen Hochadels gehörte. Dass Strohhüte mit angesteckten Sonnenblumen fehl am Platz sein könnten, war niemandem in den Sinn gekommen, denn ich sah sicherlich drei solcher Eigenkreationen in der Menge. Der Bürgermeister Lügelns, ein Großväterchen von bestimmt achtzig Jahren, war mit Abstand am besten gekleidet. Er trug Frack und Fliege und wirkte sehr elegant, obwohl ich nicht zu sagen vermochte, ob dies daran lag, dass er so gut gekleidet war oder die anderen so schlecht. Als die Glocke erklang stieg er mit wackligen Beinen die Treppe zum Kinosaal hoch, griff sich im Vorübergehen den Zylinder des Stadtrats, setzte ihn auf und stellte sich aufrecht vor die Tür zum Saal.
Er räusperte sich, vermochte jedoch die Champagner-Laune der Anwesenden nicht zu übertönen.
„Meine Damen, meine Herren, verehrte Gäste“, schrie er fast, um sich Gehör zu verschaffen. Die Ersten schauten erwartungsvoll in seine Richtung und der Bürgermeister wartete mit der Fortsetzung seiner Rede, bis auch die Letzten das taten.
„Wir haben es dem berühmtesten Spross unserer Stadt zu verdanken, dass wir uns heute zu diesem besonderen Anlass hier zusammengefunden haben.“
Von allen Seiten Applaus und zustimmendes Gemurmel.
„Wie Sie alle wissen, hat mein Sohn in jungen Jahren Lügeln verlassen, um sein Glück in London…“
Der Bürgermeister machte eine dramatische Pause, um den Namen dieser Weltstadt wirken zu lassen. Während die meisten Gäste ehrfürchtig schwiegen, entfuhr einem schwarz gekleideten Großmütterchen in der ersten Reihe ein höchst unpassendes Kichern.
„… zu versuchen. Es erfüllt meine Frau und mich mit Stolz, dass sich unser einziges Kind in England einen Namen als Designer machen konnte. Und wir freuen uns mit ganz Lügeln seinen größten Triumph gebührend zu feiern: den Entwurf des Kostüms, das Königin Elisabeth II heute zur Hochzeit ihres Sohnes tragen wird.“
Tosender Beifall und vereinzelte Hochrufe, erneut durchbrochen vom hysterischen Kichern der Alten, die, wie ich später herausfand, die Gattin des Bürgermeisters und Mutter des Gefeierten war. Man munkelte sie habe den Verlust des Sohnes nie verkraftet, galt seit dieser weggegangen und in Lügeln nicht wieder gesehen worden war gar als verrückt.
„Besonderer Dank gilt an dieser Stelle unserem geschätzten Stadtrat Alfred Ill. Er hat den vorzüglichen Champagner-Empfang nicht nur organisiert, sondern durch eine großzügige Geldspende überhaupt erst möglich gemacht.“
Die jubelnde Menge war kaum mehr zu beruhigen. Der Bürgermeister musste seine Ansprache unterbrechen und den Wohltäter zu sich auf den Treppenabsatz winken. Alfred Ill stellte sich ohne falsche Bescheidenheit direkt neben den Bürgermeister, der ihm nach kurzem Zögern den entliehenen Zylinder zurückgab, damit sich Ill standesgemäß nach allen Seiten verbeugen konnte.
Der Stadtrat schien eben zu einer eigenen Rede ansetzen zu wollen, als ihm der Bürgermeister den Zylinder vom Kopf riss, auf den eigenen setzte und fortfuhr. Alfred Ill sah über die Brüskierung gelassen hinweg, winkte noch einmal fröhlich in die Menge und nahm seinen Platz in selbiger wieder ein.
„Ich darf Sie nun in den Kinosaal bitten, die Live-Übertragung wird in wenigen Minuten beginnen.“
Ich trottete hinter den anderen her. Für die Presse – also mich – war ein Platz in der allerletzten Reihe reserviert. Unbeeindruckt pflückte ich das Klebeschild vom Samtbezug, ging nach vorne, überklebte damit den Namen auf einem Sitz in der ersten Reihe und setzte mich. Der Saal wurde abgedunkelt, wer noch nicht saß, huschte gebeugt zu seinem Platz. Nur eine Person lief noch suchend durch die Reihen, als sich der Vorhang öffnete, und zog die missbilligenden Blicke der Sitzenden auf sich.
Der Einzug von Stars, Sternchen und europäischem Hochadel wurde von der TV-Sprecherin ausführlich kommentiert. Im Saal erwartete man gespannt den Höhepunkt des Nachmittags: das Eintreffen der Queen. Nach einer guten halben Stunde war es endlich soweit. Der königliche Rolls Royce fuhr vor. Ein Diener in Livree öffnete die Tür und heraus stieg ein bananenfarbener Schuh, gefolgt von einem bananenfarbenen Rock und einem bananenfarbenen Jäckchen, gekrönt von einem bananenfarbenen Topfhut. Natürlich war es nichts Neues, dass die Queen als personifizierter Farbblock durch die Gegend schritt. Aber alles Banane? Im Saal schien sich niemand außer mir daran zu stören. Begeisterte Ahs und Ohs ertönten, der Bürgermeister lief vor Stolz rot an, seine Gattin verfiel in hysterisches Kichern und ich fragte mich, ob diese Kombination ebenso euphorisch gefeiert worden wäre, hätte sie eine gewöhnliche Frau in eine Banane verwandelt.
Vertieft in die anspruchsvolle Aufgabe das königliche Ensemble in gewogene Worte zu kleiden, dauerte es einige Momente, bis ich die plötzliche Stille bemerkte. Verwirrt schaute ich mich um und sah, dass niemand mehr zur Leinwand blickte. Alle Köpfe waren der Tür des Kinosaals zugewandt. Ich folgte dem Blick der Anderen. Dort stand sie. Gelb wie ein Zitronenfalter. Die Ähnlichkeit war unheimlich. Würdevoll schritt die alte Dame die Treppe hinab, die behandschuhten Hände umschlossen ein edles Täschchen. Unter dem Topfhut lugten perfekt frisierte graue Locken hervor und um den Hals trug sie eine Perlenkette, der man selbst von der ersten Reihe aus ansah, dass sie echt und teuer war. Einen Augenblick gab ich mich der Vorstellung hin, die Queen persönlich habe Lügeln mit ihrer Anwesenheit beehrt. Alles an der alten Dame stimmte. Einzig der Gelbton ihres Kostüms wich vom englischen Original ab, das soeben neben dem Gatten in Windsor Castle Platz nahm. Allerdings interessierte das längst keinen mehr. Die falsche Queen hatte der echten die Show gestohlen. Es dauerte bestimmt eine halbe Minute ehe die Anwesenden ihre Schockstarre überwunden hatten. Ein aufgeregtes Tuscheln und Raunen machte sich breit, wovon sich die alte Dame jedoch nicht beirren ließ. Würdevoll, mit stolz erhobenem Haupt schritt sie zur ersten Reihe und hielt vor dem Bürgermeisterpaar, das sich bereits erhoben hatte, inne.
Die Frau des Bürgermeisters war verstummt und auch der Rest des Saals hielt gespannt den Atem an. Mit großen Augen starrte die Bürgermeistergattin die alte Dame an, die aus der Nähe betrachtet viel jünger wirkte als das englische Original. Als sie jedoch Anstalten machte auf die falsche Königin zuzugehen, packte ihr Mann sie grob am Arm. Mit zugekniffenen Mund und zornigem Blick stand der Bürgermeister vor der alten Dame. Dann drehte er sich wortlos weg. Als er jedoch versuchte, seine Frau mitzuziehen, riss diese sich mit einer Kraft los, die man ihr in ihrem Alter nicht mehr zugetraut hätte. Sie drehte sich um und schlug ihrem Mann hart ins Gesicht. Die falsche Queen lächelte fein.
Lange blickte die Ältere ihrem Gegenüber in die Augen, als suche sie etwas. Dann endlich zog sie die Jüngere an ihre Brust. Und da erst begriff ich, was sie gefunden hatte.
Anmerkung
Dieser Text ist ein Wettbewerbsbeitrag für die 4. Clue Writing Challenge. Der Clue für die Challenge war der Titel “Der Kinobesuch der alten Dame”. Zur Vorbereitung auf den Text hatte ich Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt noch einmal gelesen und versucht, dessen Hauptfiguren auch in meiner Geschichte mitspielen zu lassen.