Bei Autofiktionen handelt es sich – sehr verallgemeinernd gesagt – um autobiografisch fundierte Texte. Im Gegensatz zu Autobiografien setzen sie aber bewusst fiktive Mittel ein. Die Autorin entwirft sich als literarisches Ich und spielt mit der Verwirrung zwischen Fiktion und Faktualität. Dabei geht es weniger um Wahrheit als um Authentizität.
Wer will schon zu sich kommen oder gar bei sich sein. Jeder Mensch ist nervtötend, wenn man ihm zu nahe rückt, man selbst am allermeisten. Aber das ist ja gerade das Schöne an der Prosa: Es ist nur ein abgemildertes Zu-sich-Kommen, ein simuliertes Bei-sich-Sein, weil sich in dem falle nicht ich, sondern die literarische Perspektive ist. Eine solide gebaute Perspektive lässt sich wesentlich besser ertragen als das hektische Flimmern, welches wir unser Ich nennen. […] Das fiktive Ich oder Er oder Wir ist ein Aussichtsposten, von dem man auf sich selbst schaut.
Juli Zeh: Treideln
Die Autofiktion hilft dir, zu deinen Erinnerungen literarische Distanz einzunehmen und dennoch autobiografisch fundiert zu erzählen. Mit dieser Textsorte beleuchtest du bestimmte Erlebnisse von einer neuen Perspektive – und denkst dadurch anders darüber.
Übersicht
Phase 1: Erinnere dich
Du brauchst:
- einen Stift
- Papier
- einen Wecker
- 30 Minuten Zeit
Nimm dir für die erste Phase etwa 35 Minuten. Beginne mit einer kurzen Mediation, lass Stille in dir einkehren. Erinnere dich nun an ein trauriges (!) Ereignis aus deinem Leben. Stelle den Wecker auf 30 Minuten und beginne mit dem Schreiben. Lass dich von deiner Intuition leiten. Schreibe alles auf, an das du dich erinnern kannst. Nutze dabei die Freewriting-Methode, das heißt: Schreibe ohne abzusetzen und vertraue auf dein Unterbewusstes. Alles, was auf dem Blatt steht ist richtig und gut. Korrigiere nichts, denke nicht nach, lass die Erinnerung aus dir heraus fließen.
Schreibe in Phase 1 unbedingt mit der Hand, wenn du kannst. Beim Schreiben mit der Hand ist die Gehirnaktivität erhöht, das Gehirn ganzheitlich aktiv – das hilft dir beim Erinnern.
Alternativ kannst du auch die Methode des expressiven Schreibens anwenden. Schreibe dazu zu einem traurigen/belastenden Erlebnis aus deiner Vergangenheit Tagebucheinträge. Schreibe an vier aufeinander folgenden Tagen für maximal 20 Minuten. Rechne damit, dass du dich hinterher traurig fühlst und nimm dir Zeit für dich. So können die Gefühle nach dem Schreiben abklingen.
Nach vier Tagen hast du Fragmente, die du für Phase 2 verwenden kannst.
Das expressive Schreiben eignet sich am besten, wenn dich das traurige Erlebnis, über das du Schreiben möchtest, noch stark belastet. So kannst du die emotionale Belastung beim Erinnern besser steuern.
Eigener Text
Für meinen eigenen Text habe ich viele traurige Ereignisse erinnert. Unter anderem alle Todesfälle in meiner Familie. Verwundert war ich, dass der Umschalt-Effekt jedoch erst bei einer unscheinbaren Erinnerung kam: Als meine Cousine und ich einmal Enteneier gestohlen haben, um sie auszubrüten.
Phase 2: Ein modernes Märchen
Schreibe die Erinnerung neu – als Märchen aus der dritten Person. Gib deinem Märchen ein Happy End.
Du darfst beim Schreiben dazu erfinden, denn es handelt sich schließlich um einen autofiktionalen Text. Nutze gerne märchentypische Sprache, scheue dich aber nicht diese Sprache zu brechen, um deinem Märchen einen modernen Charakter zu geben.
Eigener Text
Beim Aufschreiben der Erinnerung, kam mir sofort die Idee für ein Märchen aus ungewöhnlicher Perspektive. Der Umschalt-Effekt war so stark, dass ich das Freewriting nach ca. fünfzehn Minuten unterbrochen habe und direkt ins Märchenschreiben überging. Nach zwei Versionen und etwa einem Nachmittag Arbeit ist der folgende Text entstanden:
Die nasezwickenden Enten vom Panzergraben
Phase 3: Du & das Zeitgeschehen
Wieder nimmst du einen Perspektiv-Wechsel vor. Schreibe über dieselbe Erinnerung – nutze dabei aber die Ich-Perspektive und wechsle die Textsorte: Schildere das Erlebnis in der kühlen Form des Essays.
Beziehe dich beim Schreiben – als zweite, reflektierende Ebene – auf gesellschaftliche und zeitliche Faktoren. Schaffe Distanz zu deinem Ich, indem du die eigenen Handlungen sowie die gesellschaftlichen Bedingungen kommentierst und reflektierst. Dazu kannst du gerne recherchieren.
Eigener Text
Ich war überrascht darüber, dass mir auch diese Textsorte sehr viel Spaß gemacht hat. Bisher habe ich noch nie bewusst ein Essay geschrieben und musste mich erst einmal über diese Textsorte informieren. Das Einflechten der zeitgeschichtlichen Bezüge war eine spannende Zeitreise in meine Kindheit. So Vieles ist passiert, dessen Auswirkungen auf mein heutiges Leben ich mir als Kind gar nicht vorstellen konnte. Beim Schreiben fiel es mir allerdings schwer, nicht abzuschweifen und den Weg zurück zur Kern-Erinnerung zu finden. Ob mir der Bogen gelungen ist? Entscheide selbst:
Wie ist es dir beim Schreiben der einzelnen Texte ergangen? Welcher fiel dir besonders leicht, welcher schwer? Welche Herausforderungen hast du festgestellt und wie bist du ihnen begegnet? Hat dir die autofiktive Distanz zu dir selbst beim Schreiben geholfen?
Lesetipp: Autofiktion
Eine Autofiktion, die ich dir gerne empfehlen möchte ist Der Liebhaber von Marguerite Duras. Die Autorin erzählt und verarbeitet darin auf eine sehr poetische Art und Weise eine Liebesgeschichte aus ihrer Jugend sowie die Beziehung zu ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern. Der Link führt zum Hörbuch, wunderbar gelesen von Nina Hoss. Es eignet sich perfekt zur Hör-Lektüre an einem heißen Sommertag.
Zusätzlich kann ich dir von Lutz von Werder das Buch Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten: Die eigene Lebensgeschichte kreativ schreiben empfehlen, das weitere Methoden aufzeigt, wie du von einer Erinnerung zu einer literarischen Bearbeitung dieser Erinnerung kommst.
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Anmerkung
Diese Schreibübung stammt aus dem Modul “Autofiktion” (Dozent: Thomas Avenhaus). Das Modul ist Teil des Master-Studiengang “Biografisches und Kreatives Schreiben” an der ASH Berlin.
Sehr schöne Definition von autofiktionalem Schreiben.
Mir gefällt besonders der Satz: „Die Autorin entwirft sich als literarisches Ich“. Die Autorin entwirft also nicht irgendetwas, irrgendeinen Stoff außerhalb von ihr, sondern sich selbst. Dabei kann sie alle fiktionalen Mittel einsetzen, die ihr in den Sinn kommen. Wichtig bleibt die Authentizität und damit auch die Schreibintention.
Sehr gelungene Website zu einem spannenden literarischen Thema, dass noch lange nicht abschließend diskutiert ist.
Liebe Susanne,
vielen Dank für deinen Kommentar. Es freut mich, dass dich das Thema (und die Webseite) anspricht 🙂
Beste Grüße,
Andrea